9. Klinische Tagung der DGfS 2021

Am 17. und 18. September 2021 fand die 9. Klinische Tagung der DGfS statt. Diesmal kamen wir im digitalen Format zu Ihnen und Euch nach Hause.

Rund 80 Tagungs-Teilnehmende versammelten sich „zuhause in ihren Wohnzimmern“, um ihr Wissen zu erweitern und Erfahrungen auszutauschen.

Die Klinische Tagung virtuell zu gestalten war – trotz einiger Erfahrungen mit dem Digitalen Donnerstag – ein Neuland für uns. Wir vom Fort- und Weiterbildungsausschuss (FWA) waren nicht sicher, ob es gelingen würde, die persönliche Atmosphäre der bisherigen Tagungen auch nur ansatzweise herzustellen.
Das neue Format bot durchaus Vorteile: durch das digitale Konzept hatten wir Planungssicherheit; die notwendige Verschiebung der lange geplanten Workshoptagung im Jahr 2020 auf einen noch ungewissen Zeitpunkt saß uns vom FWA allen noch in den Knochen.

Dadurch, dass für die Teilnehmenden Kosten für Anreise und Übernachtung weg, gab es ungewöhnlich viele Anmeldungen von Studierenden- das Publikum hat sich deutlich verjüngt. Aber auch „alteingesessene“ und langjährige Kolleg:innen stellten sich der digitalen Herausforderung. Für technische Unterstützung sorgten dabei rund um die Uhr unser langbewährter Administrator Lukas Kleikamp und sein Kollege.

Trotzdem war die Aufregung groß, ob die Technik funktionieren und eine fruchtbare Zusammenarbeit entstehen würde.

Nach der Begrüßung durch den Tagungsleiter Guido Schneider und einem fesselnden Vortrag von Martin Dannecker im Plenum verschwanden alle Teilnehmenden in ihren virtuellen Seminarräumen. Im FWA startete parallel eine wilde Handy-Kommunikation mit den beständigen Fragen: ist niemand im Netz verloren gegangen? Sitzen alle im richtigen Workshop?
Doch nach und nach legten sich die Zweifel. Die Workshops wurden sehr gut angenommen. Alle fanden den richtigen Platz.  Die Referierenden (die einzelnen Workshops finden sie etwas weiter unten aufgeführt) waren durchweg engagiert, bestens auf die digitalen Herausforderungen eingestellt und zeichneten sich durch große Expertise aus.

Immer wieder trudelten bei den einzelnen FWA-Mitgliedern kleine nette Botschaften von Tagungsteilnehmenden per Messenger oder Mail ein. Das war sehr wichtig für uns, da wir ja, anders als in einer Tagung vor Ort in den Pausen wenig von der allgemeinen Stimmung aufnehmen konnten.

In den Workshops gab es nicht nur fachliches Input, sondern auch Übungen, Selbsterfahrung, Kleingruppenarbeiten, Umfragen und jede Menge angeregter und anregender Diskussion. Viele zeigten eine unerwartet große Bereitschaft, die räumliche Distanz durch persönliches Einbringen und engagierte Beteiligung zu überbrücken.

Und am Abend des ersten Tages ließ es sich über die Hälfte der Teilnehmenden trotz stundenlangen Sitzens vor dem Rechner nicht nehmen, unserem „gemeinsamen Raum für Begegnung und Kulturelles“ beizuwohnen. Es war eine große Freude unter der versierten Moderation unserer beiden DJs Guido Schneider und Tobias Skuban-Eisler gemeinsam Musik zu hören, die wir mit persönlichen Erinnerungen zum Thema Sexualität und Liebe verbanden und es schien uns fast, dass hier das digitale Format die Intensität und Offenheit des Austausches eher beförderte, als behinderte. An der Kultur der legendären DGfS-Tagungsparties konnten wir auch im virtuellen Raum anknüpfen.

Danke an alle, die uns durch ihren praktischen und moralischen Einsatz so unterstützt haben und die sich auf dieses Format so engagiert eingelassen haben.

Und dennoch: auch wenn dieses Experiment geglückt ist und Denkräume für neue digitale Angebote öffnet, der Wunsch nach persönlicher Begegnung bleibt- und das ist gut so.

Der FWA

Programm

Freitag, 17. September
14:00–14:15 Uhr Begrüßung
14:15–14:45 Uhr Plenum 1
Martin Dannecker:
Sexualitäten in Zeiten von Corona
  Pause 15 Min.
15:00–18:15 Uhr
inkl. Pause 15 Min.
Workshop 1
Karin Paschinger:
Traumasensible Körpertherapie nach sexueller und körperlicher Gewalt
Workshop 2
Stefan Nagel:
Alle Lust will Ewigkeit ...
Sexualität unter Drogen
  Pause 75 Min.
19:30–21:30 Uhr » Gemeinsame Räume für Begegnung und Kulturelles «
Samstag, 18. September
09:30–12:45
inkl. Pause 15 Min.
Workshop 3
Berit Brockhausen:
Warum hast du denn nichts gesagt? – Über Paarkommunikation beim Sex. Wie David Schnarchs Mindmappingkonzept die Mikroanalyse der letzten sexuellen Begegnung bereichert.
Workshop 4
Laura Kürbitz:
Online kann ich sein wer ich bin. – Die Entwicklung von Geschlechtsidentität / Geschlechtsinkongruenz in einer digitalisierten Welt.
  Pause 60 Min.
13:45–17:00
inkl. Pause 15 Min.
Workshop 5
Angelika Eck:
Zwischen den Ohren und
zwischen den Beinen –
sexuelle Fantasien und Körper-prozesse sexualtherapeutisch in Beziehung bringen
Workshop 6
Richard Lemke und Eva Kada:
Digitale Sexualität –
ein Exkurs zu individuellen Funktionen und unterschiedlichen Bedeutungen
  Pause 15 Min.
  Zuhause in unseren Wohnzimmern  
17:45 – 18:00 Abschluss / Ausblick  

Abstracts zu den Workshops

Workshop 1

Karin Paschinger: Traumasensible Körpertherapie nach sexueller und körperlicher Gewalt

Traumatisierte Menschen berichten nach sexueller und körperlicher Gewalt über ein komplexes Mischbild von Schmerzen. Auf der Körperebene klagen Betroffene oft über multiple Schmerzen im gesamten Muskel-Skelett-System, Ekel- und Schamgefühle, Missempfindungen, Aversion gegen Berührung sowie Gefühllosigkeit. Anhand von Fallbeispielen werden vielschichtige Körperbeschwerden und die traumasensible Körpertherapie vorgestellt.

Literatur: Paschinger K., Büttner M. Traumaassoziierte Körperbeschwerden und Sexualität In: Büttner M. (Hrsg.) Sexualität und Trauma, Stuttgart: Schattauer 2018

Karin Paschinger ist als Physiotherapeutin im Klinikum rechts der Isar an der Technische Universität in München beschäftigt. In der Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie begleitet sie mit ihren langjährigen Erfahrungen Betroffene von sexueller, körperlicher, emotionaler Gewalt und chronischen Schmerzstörungen.

Workshop 2

Stefan Nagel: Alle Lust will Ewigkeit … – Sexualität unter Drogen

Drogen, insbesondere chemisch hergestellte Drogen, werden vor allem in vier Bereichen eingesetzt:

  • in der Freizeit bei bestimmten sozialen Ereignissen (‚Partymachen‘),
  • dort vor allem in Verbindung mit an Körperrhythmen angepasster Musik, zur Entspannung (‚Runterkommen‘, ‚Chillen‘, ‚Downen‘),
  • zur Steigerung der Leistungsfähigkeit (‚Hirndoping‘)
  • und nicht zuletzt zur Steigerung der sexuellen Erlebens- und Handlungsfähigkeit (‚Chemsex‘).

Bei letzterem spielt vor allem die Steigerung des sogenannten ‚Wantings‘, also die Stimulierung des dopaminabhängigen Bereitschafts- und Appetenzverhaltens eine große Rolle. Dies bildet eine ‚ideale‘ Vorbereitung auf und Kombinationsmöglichkeit mit dem sogenannten ‚Liking‘, dem endorphin- und oxytocinabhängigen Befriedigungserleben.

In Verbindung mit Sexualität werden Drogen allerdings nicht nur zur Steigerung des Lusterlebens eingesetzt, sondern dienen außerdem der Schmerz-, Angst-, Scham- und Schuldreduktion. Damit ermöglichen sich sexuelle Praktiken, die entweder körperlich schwer zu realisieren sind oder gegen gängige Normen verstoßen. Die Bereitschaft, dabei zugunsten des Lustgewinns erhebliche kurz- und langfristige Risiken zu akzeptieren, lässt sich evolutionsbiologisch (Fortpflanzungsprimat), hirnphysiologisch (Neurotransmitter-Stimulation), psychologisch (Lustsuche) sowie aufgrund von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen (verstärkte Automanipulation bei hoher Leistungsbereitschaft und gleichzeitigem emotional-sinnlichem Interaktionsmangel) erklären. Die Persönlichkeitsmuster der Drogengebraucher*innen entsprechen beim Chemsex zu einem großen Teil nicht mehr denen typischer ‚Sucht‘-Patient*innen (‚Junkies‘) mit einer oral-dependenten Grundstruktur, wie sie aus der klassischen Drogenszene bekannt sind. Vielmehr finden sich vermehrt gut etablierte Angehörige der Mittel- und Oberschicht mit einer eher integrierten Persönlichkeitsstruktur, allerdings oft normativ überangepasstem, affektisoliertem und teilweise anankastischem Verhalten. In einem Suchtmittel-Therapiekonzept, welches sich an den ‚klassischen‘ Sucht-Patient*innen orientiert, fühlen sich Chemsex-Patient*innen oft fehl am Platz. Immer wieder führt ein zunehmend unkontrollierter und oftmals polytoxikomaner Drogengebrauch neben somatischen (z. B. bei Substanzinteraktionen) auch zu erheblichen psychischen und sozialen Gefährdungen.

Diese unterschiedlichen Aspekte möchte ich nach einem einführenden Impulsvortrag im Workshop thematisieren

  • im Hinblick auf das therapeutische Vorgehen
  • unter Einbezug von Übertragung und Gegenübertragung
  • sowie verschiedener resultierender therapeutischer Dilemmata.

Dr. med. Dr. phil. Stefan Nagel, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse, Sozialmedizin.
Er ist Chefarzt der Rehabilitationsklinik für Psychosomatik am AMEOS Reha Klinikum Ratzeburg.

Workshop 3

Berit Brockhausen: Warum hast du denn nichts gesagt? – Über Paarkommunikation beim Sex. Wie David Schnarchs Mindmappingkonzept die Mikroanalyse der letzten sexuellen Begegnung bereichert.

„Du musst dem:der anderen sagen, was dir gefällt und was du magst beim Sex.“ In verbindlichen auf Dauer angelegten Liebesbeziehung geht dieser Rat fast immer am Problem vorbei.

Wir werden uns anschauen ...

  • ... was Paare voneinander wissen, obwohl es nicht ausgesprochen wird,
  • ... wie Paare sich auch ohne Worte verständigen und verhandeln,
  • ... welche Konsequenzen das für die gemeinsame Sexualität hat.

Grundlage ist die Theory of Mind und das Mindmappingkonzept von David Schnarch. Im Workshop werden wir ausprobieren, wie sich das Bild der beiden beteiligten Personen, ihres Verhaltens, ihrer Wahrnehmungen, Kognitionen, Gefühle, Bedürfnisse und Entscheidungen verändert, wenn bei der Mikroanalyse einer sexuellen Begegnung Fragen nach Mindmapping einbezogen werden.

Dipl.-Psych. Berit Brockhausen ist approbierte psychologische Psychotherapeutin und arbeitet seit 1985 in der Paar- und Sexualberatung/-therapie, seit 2007 ausschließlich mit Paaren. Sie ist Autorin mehrerer Ratgeber (u.a. „Guter Sex geht anders“, Humboldtverlag), Supervisorin der DGfS und Dozentin für Paartherapie (u.a. für die DGVT)

Workshop 4

Laura Kürbitz: Online kann ich sein wer ich bin – Die Entwicklung von Geschlechts-identität / Geschlechtsinkongruenz in einer digitalen Welt.

Die Entwicklung der Geschlechtsidentität ist eine der zentralen Herausforderungen während des Erwachsenwerdens. Insbesondere, wenn hierbei eine Geschlechtsinkongruenz entsteht. In der digitalen Welt eröffnen sich neue Möglichkeiten die eigene Geschlechtsidentität online zu „erproben“, was auch mit neuen Herausforderungen einhergeht. Ob, und wenn ja wie, sie ihre Geschlechtsidentität online öffentlich machen, ist eine Entscheidung, die insbesondere Menschen mit Geschlechtsinkongruenz bewusst und aktiv treffen müssen. Darüber hinaus eröffnet sich ein Spannungsfeld zwischen (ggf. paralleler) Online- und Offlineidentität, was einerseits ent- aber auch belastend erlebt werden kann. In diesem Workshop werden aktuelle Entwicklungen in der Nutzung des Internets zur Präsentation und dem „Ausprobieren“ der eigenen Geschlechtsidentität, aber auch die Zugehörigkeit zu Communities vorgestellt. Darüber hinaus werden Überlegungen zum Gebrauch des Internets und der Mitgliedschaft in Online-Communities in Bezug auf die Entwicklung der Geschlechtsidentität referiert. Anhand von Fallvignetten werden Chancen, aber auch Risiken der Beschäftigung in Online-Welten herausgearbeitet.

Laura Kürbitz, M.Sc.Psych.,Psychologische Psychotherapeutin, ist Mitarbeiterin der Spezialambulanz für Sexuelle Gesundheit und Transgender-Versorgung an Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Workshop 5

Angelika Eck: Zwischen den Ohren und zwischen den Beinen – Sexuelle Fantasien und Körperprozesse sexualtherapeutisch in Beziehung bringen

Sexuelle Fantasien erfüllen viele Funktionen. Unter anderem können sie Körperprozesse (sexuelle Erregung, Erregungssteigerung, Orgasmus) anregen und intensivieren. Manchmal werden sexuelle Fantasien konflikthaft erlebt und gehen mit Stress im Organismus einher. Umgekehrt können körperliche Parameter (Muskeltonus, Bewegungen, Atmung) das Auftauchen bestimmter Fantasien begünstigen oder behindern. Sexualtherapeutisch sind beide Richtungen interessant. Der Workshop thematisiert mit konzeptionellem Input sowie an Hand von Fallbeispielen und Selbsterfahrungsübungen, wie wir Klient*innen mit Konflikten rundum das Thema sexuelle Fantasien und sexuelles Erleben dabei unterstützen können, beide Wege zu nutzen: Über die Entwicklung und Veränderung von Fantasien lustvollere sinnlich-sexuelle Erfahrungen zu machen und über die Wahrnehmung und Veränderung körperlicher Parameter erwünschte Fantasien einzuladen.

Dr. sc. hum. Angelika Eck, Dipl.-Psychologin, arbeitet als Einzel-, Paar- und Sexualtherapeutin in eigener Praxis, Sie war Mitarbeiterin der Sektion Medizinische Organisationspsychologie des Instituts für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Heidelberg von 2008 bis 2012; zahlreiche Publikationen u. a. „Der erotische Raum“.

Workshop 6

Richard Lemke und Eva Kada: Digitale Sexualität – Ein Exkurs zu individuellen Funktionen und unterschiedlichen Bedeutungen

Phänomene digitaler Sexualität wie Sexting, Cybersex, digitaler Affären oder Ponografiekonsum im Internet spielen im klinisch/therapeutischen Kontext eine zunehmende Rolle. Oft sind sie nicht der Hauptgrund, weshalb eine Therapie oder Beratung aufgesucht wird, aber sie tauchen regelmäßig in Nebenschauplätze auf. Dabei können vermeintlich gleiche Prozesse sehr unterschiedliche individuelle Funktionen und Bedeutungen haben. Ziel des Workshops ist es daher, ein Verständnis für die Dynamiken digitaler sexueller Kommunikation zu verbessern. Thematisiert werden sowohl Formen interaktive Kommunikation zwischen realen Menschen wie Chats, Cybersex, Datingapps als auch fantasierte Kommunikation und Interaktion im einseitigen Pornografiekonsum und ähnliche Rezeptionsmustern. Im ersten Teil des Workshops werden wissenschaftliche Schlüsselwerke und Theoriebausteine zur Sozialpsychologie und Psychodynamik digitaler Sexualität vorgestellt und anhand von Beispielen eingeordnet. Im zweiten Teil werden anhand von Fallvignetten Berührungspunkte mit digitaler Sexualität im Rahmen von Einzel- oder Paartherapie gezeigt, um Exploration und Verständnis unterschiedlicher Bedeutungen digitaler sexueller Prozesse zu verbessern.

Dr. phil. Richard Lemke, Kommunikationswissenschaftler; ist Dozent für Sozialwissenschaften und Führungskultur an der Polizeiakademie Niedersachsen und arbeitet als selbständiger Berater. Er ist Vorstandsmitglied der DGfS.

Dr.in Eva Kada, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Sexualtherapeutin. Sie leitet die forensisch-psychiatrische Abteilung PS 4 im LKH Graz II.