27. Wissenschaftliche Tagung der DGfS

UMBRÜCHE
27. Wissenschaftliche Tagung der DGfS

(C) Harnack-Haus, Andreas Muhs

In diesem Jahr fand vom 16.-18. September 2022 in Berlin die 27. Wissenschaftliche Tagung der DGfS statt. Es war uns ein Vergnügen, Sie ganz real und persönlich in Berlin zu begrüßen.

Programm

Die Tagung widmete sich den aktuellen gesellschaftlichen und sexualwissenschaftlichen Fragestellungen und Kontroversen. Im Fokus stand auch die Rolle von Wissenschaftler_innen im Rahmen gesellschaftlicher Kontroversen und wissenschaftlichem Aktivismus. Wir sind folgenden Themenschwerpunkten nachgegangen:

  • Meinungsfreiheit, Vielfalt und Expertise in der Sexualwissenschaft
  • Neuerungen in der Rechtslage zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit und geschlechtlichen Selbstbestimmung bei Varianten der Geschlechtsentwicklung
  • Wissenschaftliche und gesellschaftliche Perspektiven auf Entwicklungswege der geschlechtlichen De-Transition
  • Aufarbeitungen sexualgeschichtlicher Themen
  • Zeitgeist und zunehmende strafrechtliche Thematisierung von Sexualität

Die Opening-Reception am Freitag, die Mittagspause am Samstag und das große Tagungsfest am Samstagabend boten viel Raum für Austausch, Gespräch und Begegnung.

 

Freitag, 16. September
15:00 Kaffeeklatsch: Get Together zur Begrüßung der Neumitglieder

Alle Mitglieder sind herzlich eingeladen, die Neumitglieder in der DGfS zusammen mit dem Vorstand und dem Fort- und Weiterbildungsausschuss (FWA) zu begrüßen und in den Austausch über die Arbeit der DGfS zu kommen.

Parallel: Ab 15:00 Uhr Registrierung zur Tagung

17:00 Eröffnung

Begrüßung durch die Erste Vorsitzende Katinka Schweizer, Verleihung des Promotionspreises der DGfS und Vorstellung der prämierten Promotion (s. Ausschreibung)

17:45 Thomas Fischer: Sexualverhalten und strafrechtlicher Rechtsgüterschutz
19:00 Opening Reception & Open Stage

Eröffnungs-Abend inklusive Imbiss und Getränke

Samstag, 17. September
9:00 Intersex und körperliche Unversehrtheit
  • Katharina Lugani: Der rechtliche Rahmen der medizinischen Behandlung von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung – alles neu und besser?
  • Resonanz von Erfahrungs-Expert_innen
10:30 Pause
10:45 Aktuelle Forschung aus der Sexualwissenschaft

Kurzinputs zu aktuellen Forschungsprojekten und -befunden.

  • Johanna Schröder: Veränderungen des sexuellen Erlebens und Verhaltens während der COVID-19 Pandemie
  • Jeanne Desbuleux: Sexualität im Umbruch - Die realweltlichen Konsequenzen von hochrealistischen Sexpuppen
  • Verena Klein: Sexuelle Spielräume im heterosexuellen Kontext
  • Laura Pietras: Beziehungsnähe und Paarsexualität - Welchen Einfluss hat „Inculsion of Other in the Self”?
12:45 Mittagspause mit Buffet und Möglichkeiten des Austauschs
14:00 Zum Diskurs der De-Transition: Drei Perspektiven
  • Nele J.: De-Transition aus der Sicht von Betroffenen
  • Jochen Heß: Chirurgische Aspekte der De-Transition
  • Timo O. Nieder: De-Transition und Non-Binarität – gibt es einen Zusammenhang?
16:00 Poster-Session und Nachmittagskaffee
17:15 Mitgliederversammlung
19:30 Tagungsfest

Das Tagungsfest findet vor Ort im Harnack-Haus statt. Bei gutem Wetter auch im Garten.

Sonntag, 18. September
9:45 Wissenschaft in gesellschaftlichen Kontroversen – Aktivismus, Medien und Öffentlichkeit
  • Friederike Herrmann: Wer hat das Sagen? Entgrenzung und Polarisierung in der Wissenschaftskommunikation
  • Livia Prüll: Was ist eine Expert_in? Das Ringen um eine verwertbare Definition
11:15 Pause
11:35 Meike Baader: Wissenschaft und sexualisierte Gewalt - Involviertheit, Verantwortung, Aufarbeitung
12:50 Verabschiedung und Ausblick des_der neuen Ersten Vorsitzenden
13:30 Ausklang der Veranstaltung

Abstracts zu den Beiträgen

Hier finden Sie die Abstracts zu den Beiträgen.

Freitag

Thomas Fischer: Sexualverhalten und strafrechtlicher Rechtsgüterschutz

Der Zusammenhang zwischen sexualbezogenem Verhalten und Regeln sozialer und öffentlicher Ordnung ist vielfältig und kompliziert. Sexualstrafrecht beschreibt einen Ausschnitt dieses Verhältnisses und steht seit jeher, besonders aber in den vergangenen Jahrzehnten, im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit, Berichterstattung und individueller Wahrnehmung. Teilweise wird ihm ein geradezu paradigmatischer Charakter zugeschrieben, dessen Behandlung, Diskussion, „Erfolg“ oder „Misserfolg“ Auskunft über den Zustand der Gesellschaft geben soll. Der Vortrag befasst sich mit dieser herausgehobenen Rolle, welche die Sanktionierung von sexualbezogenem Verhalten heute einnimmt. Den Anforderungen, Bedingungen und Wirkungen ihrer rechtlichen und sozialen Realisierung. Ziel des Vortrags ist es, einen Beitrag zur rationalen Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen des Rechtsgüterschutzes im Bereich höchstpersönlicher Identitätsvorstellungen zu leisten.

Prof. Dr. Thomas Fischer ist Rechtswissenschaftler und war bis 2017 Richter am Bundesgerichtshof. Seitdem arbeitet er unter anderem als Strafverteidiger, Sachbuchautor und Kolumnist (u.a. für SPIEGEL und ZEIT).

Samstag

Intersex und körperliche Unversehrtheit
Katharina Lugani: Der rechtliche Rahmen der medizinischen Behandlung von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung – alles neu und besser?

Seit dem 22.5.2021 regelt der neue § 1631e BGB die medizinischen Behandlungen von Kinder mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Katharina Lugani beleuchtet aus juristischer Perspektive das neue Regime, das insbesondere für nicht einwilligungsfähige Kinder und Jugendliche ein komplexes Regelungswerk unter Beteiligung von Eltern, Familiengericht und einer interdisziplinären Kommission vorsieht. Der Vortrag wird neben dem juristischen Gesamtüberblick besonders auf kritische Aspekte der Neuregelung und erste Erfahrungen mit ihr eingehen.

Prof. Dr. Katharina Lugani ist Rechtswissenschaftlerin und Professorin für deutsches, europäisches und internationales Privat- und Verfahrensrecht an der Universität Düsseldorf.

Zum Diskurs der De-Transition: Drei Perspektiven
Nele J.: De-Transition aus der Sicht von Betroffenen

Der Vortrag behandelt ihre persönliche Erfahrung als Detransitioner und ihre Arbeit an dem Projekt Post Trans, welches zum Ziel hat, die Lücke an Ressourcen und Sichtbarkeit zum Thema zu schließen. Ebenso wird darauf eingegangen, welchen Schwierigkeiten Detransitioner sich auf psychologischer, sozialer und medizinischer Ebene stellen müssen und welche Bedürfnisse und Unterstützung sie daraus resultierend benötigen.

Jochen Heß: Chirurgische Aspekte der De-Transition

Prof. Dr. Jochen Heß wird aus seiner chirurgischen Expertise und Erfahrung zu den aktuellen chirurgischen Möglichkeiten im Rahmen von De-Transitionen berichten. Er ist Facharzt für Urologie und stellvertretender Klinikdirektor der Urologischen Universitätsklinik in Essen.

Timo O. Nieder: De-Transition und Non-Binarität – gibt es einen Zusammenhang?

Die Differenzierung des Gender-Spektrums schreitet weiter voran. Zunehmend begegnen uns De-Transitionen. Sichtbarer und vermutlich auch häufiger werden spätestens seit der vergangenen Dekade auch non-binäre Gender. Stehen diese beiden Entwicklungen in einem Zusammenhang? Entsprechen die De-Transitionen von heute dem, was früher mit dem Begriff Regret beschrieben wurde? Mit einem Blick in die Empirie nähert sich der Vortrag diesen Fragen an und diskutiert, ob sich neben der quantitativen Veränderung auch qualitativ Bedeutsames erfassen lässt.

PD Dr. Timo O. Nieder ist Sexualwissenschaftler, Psychologischer Psycho- und Sexualtherapeut und leitet die Spezialambulanz für sexuelle Gesundheit und Transgender-Versorgung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

Sonntag

Wissenschaft in gesellschaftlichen Kontroversen – Aktivismus, Medien und Öffentlichkeit
Friederike Herrmann: Wer hat das Sagen? Entgrenzung und Polarisierung in der Wissenschaftskommunikation

Die Vorstellung von Wissenschaftskommunikation hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt. Herrschte lange Jahre ein lineares und hierarchisches Modell vor, nach dem die Erkenntnisse der Wissenschaft durch Journalist:innen einem breiten Publikum vermittelt werden sollten, wird heute eher eine dialogisch und partizipativ angelegte Kommunikation gefordert: das Wissen soll in einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess geteilt werden. Die digitalen Medien unterstützen diese Entwicklung, die traditionelle Autoritäten in Frage stellt. Diese horizontalen Informationsflüsse erscheinen demokratischer und der Vorläufigkeit aller Erkenntnis angemessen. Sie evozieren angesichts umstrittener Themen aber auch kontroverse Debatten, die das Prinzip evidenzbasierten Wissens als solches in Frage stellen und damit Grundwerte unserer Gesellschaft angreifen und auch Desinformation fördern, wie bei der Corona-Pandemie geschehen. Starke Polarisierungen der Öffentlichkeit finden wir auch bei Themen, die gesellschaftlichen Wandel markieren und die Macht traditioneller Eliten in Frage stellen, wie etwa beim Gendern der Sprache. Der Vortrag will zur Diskussion über die Bedeutung und Rolle wissenschaftlicher Erkenntnis in der öffentlichen Meinungsbildung anregen.

Prof. Dr. Friederike Herrmann ist Professorin für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Livia Prüll: Was ist eine Expert_in? Das Ringen um eine verwertbare Definition

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Wissenschaft an den Universitäten - vor allem in Deutschland. Männliche Professoren wurden „Experten“ für Lehre und Forschung in den verschiedensten Disziplinen. Der Vortrag beschreibt und analysiert die Erosion der alleinigen „Deutungsmacht“ des Wissenschaftlers seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt auf der Basis der sich entwickelnden Wissenschaftstheorie und -soziologie. Dies führte dazu, dass auch Nichtwissenschaftler_innen zu „Expert_innen“ wurden. Auch wird es zunehmend akzeptiert, dass die Wissenschaftler_in ihre lebensweltlichen Bezüge gewinnbringend in die Forschung und Lehre einbringen kann. Die geschilderte Entwicklung wird unter anderem am Beispiel von Transidentität/Transsexualität deutlich und von der Vortragenden anhand von Beispielen aus der eigenen Arbeit demonstriert.

PD Dr. Livia Prüll ist Ärztin, Wissenschafts- und Medizinistorikerin und arbeitet am Institut für Anatomie der Johannes Gutenberg-Universität u.a. zu medizinischen, medizinhistorischen und -ethischen Aspekten von Transidentität/Transsexualität.

Wissenschaft und sexualisierte Gewalt
Meike Baader: Wissenschaft und sexualisierte Gewalt - Involviertheit, Verantwortung, Aufarbeitung

Vor dem Hintergrund mehrerer Aufarbeitungsprojekte fokussiert der Beitrag Fragen, Probleme und Ergebnisse zur Involviertheit der Wissenschaft in sexualisierte Gewalt und pädosexuelle Positionen und deren Legitimation seit den 1970er Jahren. Dabei wird auch das Selbstverständnis von Wissenschaft im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit, Reformideen und politischem Aktivismus als Modernisierungsprojekt in den Blick genommen. Dies tangiert zugleich die Bedeutung von Empirie im neuen Verständnis einer sich an empirischer Forschung orientierenden Verwissenschaftlichung des Sozialen in den 1970er Jahren. Pädosexualität legitimierende Positionen erschienen in den 1970er und 1980er Jahren im Mantel von Modernisierung, Emanzipation und Befreiung, der Rechte von Kindern und Jugendlichen und einer Empirie, die Unschädlichkeit nachweisen sollte. Dabei spielten sowohl ein spezifisches, äußerst verengtes Gewaltverständnis wie auch eine stereotypisierte Vorstellung stets positiv bewerteter männlicher Sexualität eine Rolle. Diskutiert werden soll zudem ein zentrales Ergebnis der Aufarbeitungsforschung zur Involviertheit von Erziehungs- und Sozialwissenschaften von den 1970er bis in die 1990er Jahren, wonach es letztlich wenig Gegenpositionen und kaum breitere fachgesellschaftliche Debatten über Positionen gab, die Pädosexualität legitimierten, so dass hier zwischen Diskurs und kontroversen Debatten zu unterscheiden ist.Aufgeworfen wird zudem die Frage nach der aktuellen Verantwortung für Positionen aus der Wissenschaft in Fachgesellschaften, Zeitschriften oder Instituten im fokussierten Zeitraum. In diesem Zusammenhang werden mehrere Abwehrstrategien identifiziert, die beispielsweise mit Abwehr durch Historisierung, durch Nichtzuständigkeit oder auch durch Verweis auf andere Einrichtungen reagieren.

Prof. Dr. Meike Sophia Baader ist Erziehungswissenschaftlerin mit einem Schwerpunkt in der Historischen Bildungsforschung und Professorin an der Universität Hildesheim.