Gedanken zum Thema Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter

Gesellschaftliche Fragen und verantwortliche Gesundheitsversorgung in einer polarisierten Debatte

Die öffentlichen Diskussionen über Geschlechtszugehörigkeit, geschlechtliche Selbstbestimmung und die Geschlechtlichkeit des Menschen haben in den letzten Jahren zugenommen. Sie gewinnen vor allem dann an Emotionalität, wenn es um Kinder und Jugendliche geht. Die zunehmende Anzahl an Jugendlichen, die ihre Geschlechtsidentität und den Begriff Geschlecht selbst hinterfragen, fordert nicht nur Eltern heraus, sondern auch Medizin, Psychologie und Gesellschaft

Nicht nur die mediale, auch die fachliche Debatte wird teilweise sehr polarisiert geführt. Im Folgenden wollen wir Gedanken teilen, Zwischenräume suchen und verschiedene Perspektiven berücksichtigen. Insbesondere die Perspektive von Jugendlichen, die Hilfe suchen und die ihrer Eltern, aber auch die Perspektive von Behandler_innen und Kolleg_innen in der Gesundheitsversorgung. Unsere Fachgesellschaft hat an dem sehr langen Entwicklungsprozess der bald erscheinenden S2k-Leitlinie »Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie des Kindes- und Jugendalters« mitgewirkt, in dem es zu vielen Überarbeitungsschritten unter Berücksichtigung vielseitiger Kritikpunkte kam. Der besonnene Umgang der Beteiligten mit den öffentlichen Diskursen und die stetige Reaktion auf neue wissenschaftliche Evidenzen ist dabei hervorzuheben. Durch die Leitlinie entsteht nach unserer jetzigen Einschätzung in Zukunft mehr Behandlungssicherheit für Kinder und Jugendliche, und mehr Handlungssicherheit für ihre Familien und die Behandelnden.

Zum Phänomen

Gender-non-konforme, transidente oder sich andersgeschlechtlich-identifizierende Personen sind kein reines Phänomen der Gegenwart. Die deutliche Zunahme von behandlungssuchenden geschlechtsdysphorischen Kindern und Jugendlichen seit ca. 10 Jahren in vielen westlich geprägten Ländern rückt das Thema jedoch immer weiter in die Mitte der Gesellschaft. Unter Geschlechtsdysphorie wird ein Leiden im Zusammenhang mit dem eigenen Geschlecht verstanden, insbesondere das Leiden, das aus der Spannung erwächst, wenn die Geschlechtszuweisung nicht dem eigenen Geschlechtserleben entspricht. Was früher als seltenes Phänomen wahrgenommen und wenig diskutiert wurde, erlangt auch in Deutschland zunehmend Sichtbarkeit.

Die Tatsache, dass immer mehr Kinder und Jugendliche bzgl. einer Geschlechtsdysphorie Hilfe und Behandlung suchen, kann auf der einen Seite durchaus positiv bewertet werden. Durch den Rückgang von Tabuisierung und Ausgrenzung ist es zunehmend möglich, eine Geschlechtsdysphorie als Problem psychischen Leids zu erkennen und angemessen zu behandeln. Psychische Erkrankungen und ggf. lebenslanges Leid könne so bei vielen Heranwachsenden verhindert werden. Auf der anderen Seite wird die Zunahme auch als besorgniserregend wahrgenommen. Denn bislang ist das komplexe Zusammenspiel möglicher Ursachen nicht erforscht. So ist weiterhin unklar, ob es sich bei der Zunahme nur um das Aufdecken früher unerkannter Fälle handelt oder ob es eine steigende Häufigkeit von Geschlechtsdysphorie und Transidentität gibt. Die Ursachen dafür, warum Kinder und Jugendliche vermehrt ihre Geschlechtszugehörigkeit in Frage stellen, können nicht mit Sicherheit benannt werden und werden kontrovers diskutiert.

Begegnungen mit den Hilfe-suchenden Jugendlichen

Viele Jugendliche, die sich bzgl. einer Geschlechtsdysphorie oder Transidentität in Psychotherapie und/oder Psychiatrie vorstellen, wünschen sich medizinische Maßnahmen, wie eine Hormonbehandlung oder Operationen, um ihren Körper dem erlebten Geschlecht anzupassen. Hierbei zeigt sich, dass trotz zunehmender gesellschaftlicher Offenheit gegenüber geschlechtlicher Vielfalt in Bezug auf Kleidung, Interessen, Verhaltensweisen und sexueller Orientierungen die Vorstellung von geschlechtsspezifischer Körperlichkeit oft weiterhin einer sehr binären Ordnung unterliegt. „Frau-Sein“ wird etwa mit einer größeren Brust und einer Vulva verbunden – „Mann-Sein“ mit einer tieferen Stimme, einer flachen Brust und einem Penis.

Durch solche Vorstellungen über den Geschlechtskörper entsteht für viele Jugendliche aus dem Erleben von fehlender Übereinstimmung damit ein deutlicher Leidensdruck, der solche Ausmaße annehmen kann, dass das Leben im eigenen Körper nicht mehr lebenswert erscheint. Die Möglichkeit, den Körper durch medizinische Maßnahmen an das empfundene Geschlecht anzupassen, erscheint für viele dann als einziger Weg oder Ausweg, ein gesundes und zufriedenes Leben zu führen.

Die Medizin hat inzwischen immer bessere Methoden entwickelt, den Wünschen nach Angleichung durch Hormonbehandlungen und Operationen immer besser zu entsprechen. Vielen Jugendlichen sind die Möglichkeiten der Medizin durch eigene Recherchen und die Darstellung von Erfahrungsberichten in den sozialen Medien gut bekannt, die Behandlungswünsche werden oft schon früh sehr spezifisch formuliert. Ein Gefühl der Machbarkeit und der Eindruck, den eigenen Körper frei nach den eigenen Bedürfnissen „gestalten“ zu können, löst bei einigen Jugendlichen den Wunsch aus, möglichst schnell medizinische Maßnahmen in Anspruch zu nehmen.

Ethische Herausforderungen und Verantwortung

Diese Wünsche stellen die Psychologie und die Medizin vor die Herausforderung, Entscheidungen begleiten oder treffen zu sollen, für die es kein richtig oder falsch zu geben scheint. Alle Beteiligten, sowohl Eltern, Ärzt_innen und Psycholog_innen, verbindet meist der Wunsch, die bestmögliche Entscheidung für das Leben der Jugendlichen zu treffen und zu einer guten Lebensqualität zu verhelfen. Berichte und Erfahrungen mit Personen, die im Laufe einer Transition zu der Erkenntnis kamen, die körperlichen Maßnahmen beenden oder auch rückgängig machen zu wollen, schüren wiederum Ängste bei Behandlern_innen und Erziehungsberechtigen vor Fehlentscheidungen. Politische und gerichtliche Entscheidungen in verschiedenen Ländern der letzten Jahre führen teilweise auch zu Befürchtungen, für Behandlungsentscheidungen in Zukunft nicht nur ethisch, sondern evtl. auch juristisch angreifbar zu werden. „Handeln“ oder „nicht handeln“ bzw. die richtige Art der Behandlung werden zur schwierigen Frage für alle, die sich ernsthaft mit geschlechtsdysphorischen Kindern und Jugendlichen und deren Wohlergehen beschäftigen. Eine neutrale Position gibt es dabei nicht, keinen Ausweg aus dem Dilemma. Wer nicht medizinisch eingreift, handelt auch und bewirkt Konsequenzen.

Elternperspektiven und vielfältige Lebensrealitäten

Auf Seite der Eltern können zudem die Befürchtungen entstehen, dass Behandelnde nicht die nötige Sorgfalt in der Begleitung der Kinder und Jugendlichen walten lassen und die Wünsche nach Körperveränderungen ggf. zu schnell und unkritisch bestärken. Eventuell erleben Eltern die geäußerte Geschlechtsdysphorie ihres Kindes vor allem als Ausdruck einer Entwicklungskrise und sehen sich durch Institutionen (Schule, Ärzt_innen, Therapeut_innen), die den Transitionswunsch des Kindes bestärken, nicht ausreichend in ihrer Fürsorgepflicht ernst genommen und in Prozesse mit einbezogen. Oft kann es passieren, dass Jugendliche und ihre Eltern keine Wege mehr sehen, über das Thema ins Gespräch zu kommen. Sorgen, Ängste und Bedürfnisse werden von beiden Seiten dann ggf. nicht mehr ausreichend geäußert oder gehört. Hier muss es die Aufgabe der begleitenden Ärzt_innen und Therapeut_innen sein, sich nicht vorschnell auf eine Seite zu schlagen, sondern Kommunikation und Austausch zu fördern oder zu ermöglichen.  

Das Festlegen von Handlungsempfehlungen und Leitlinien für den Umgang von Medizin und Psychologie mit dem Thema Geschlechtsdysporie im Kindes- und Jugendalter muss der schier unmöglichen Aufgabe gerecht werden, der großen Variabilität von Entwicklungsgeschichten, Familiendynamiken und Lebensrealitäten von Kindern und Jugendlichen zu entsprechen. Ein einheitliches schematisches Vorgehen kann dieser Verantwortung nicht gerecht werden, sondern es ist ein auf den Einzelfall zugeschnittenes individuelles Vorgehen notwendig. Geduld, Zuhören und Ungewissheit auszuhalten sind darin wichtige Aufgaben für alle Beteiligten. Die Aufklärung über medizinische Möglichkeiten und Risiken und das Sprechen und Nachdenken darüber ist immer die Voraussetzung für weitere Schritte. Medizinische Maßnahmen für individuelle Fälle therapeutisch zu eröffnen, stellt für manche Jugendliche die ersehnte Hilfe dar, bei Eltern kann dies jedoch auch die Angst auslösen, dass zu unkritisch vorgegangen wird. Dies wirft die Frage nach der Verantwortung für Entscheidungen auf.

Entwicklung weiterdenken und mit Unsicherheit umgehen

Vorteile eines frühen medizinischen Eingreifens in die körperliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen wie eine hormonelle Pubertätsblockade oder geschlechtsangleichende Hormonbehandlung bzw. Hormonersatztherapie bieten auf der einen Seite die Möglichkeit, unerwünschte und zu psychischem Leid führende Körperveränderungen in der Pubertät aufzuhalten und das spätere Erscheinungsbild dem erwünschten Geschlechtsstereotyp anzupassen. (Dies gilt besonders für Jugendliche mit männlich konnotierter Körperentwicklung.) Auf der anderen Seite unterliegt die Geschlechtsidentitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen, wie auch andere Bereiche der Identitätsentwicklung, einer gewissen Dynamik, die eine erneute Änderung der eigenen geschlechtlichen Selbstwahrnehmung zwar oft nicht sehr wahrscheinlich, aber niemals unmöglich macht. Diese Entwicklungsperspektive wird auch zunehmend akzeptiert und muss nicht mit Leiden verbunden sein.

Zudem sind viele medizinische Folgen von Hormonbehandlungen im Jugendalter nicht klar abzusehen und die wissenschaftliche Studienlage erscheint weiterhin unzureichend. Eine sichere prognostische Aussage ist daher nicht möglich, jede Entscheidung birgt das Risiko, sich im Rückblick als „falsch“ bzw. weniger gut zu erweisen. Dies führt zu der Frage, wer schlussendlich die Verantwortung für dieses Risiko tragen soll. Ist es Aufgabe von Medizin und Psychologie, es „besser zu wissen“ und im Zweifel medizinische Behandlungen eher zu unterlassen? Oder kommt ihnen die Aufgabe zu, Kinder, Jugendliche und Familien zu begleiten und zu einer selbstverantwortlichen Entscheidung zu befähigen, auch wenn wissenschaftlich begründete prognostische Aussagen nur begrenzt möglich sind?

Der Weg, den nun manche Länder gehen, manche medizinischen Maßnahmen nur noch im Rahmen von wissenschaftlichen Studien anzubieten, mag zwar die Evidenzlage in der Zukunft verbessern, aber birgt auch das Risiko, dass manche Kinder und Jugendliche nicht mehr ausreichend versorgt werden und sich beispielsweise Hormone nun wie in der Vergangenheit erneut auf dem Schwarzmarkt kaufen müssen, wobei die Möglichkeiten durch Nutzung des Internets heute weitaus größer sind. Dies birgt massive gesundheitliche Risiken.

Kinderrechte zwischen Selbstbestimmung und Schutzbedürftigkeit

In Gesundheitsversorgung und Medizin setzt sich zunehmend durch, die Mitverantwortung von Patient_innen für die eigene Gesundheit in Form von informierter Einwilligung (informed consent) und partizipativer Entscheidungsfindung (shared decision making) zur Grundlage ärztlichen Handelns zu machen. Durch die Formulierung von Kinderrechten wird zudem immer selbstverständlicher, dass auch Kinder und Jugendliche in Entscheidungen bzgl. der eigene Gesundheit mit einzubeziehen sind. Dies wirft jedoch die Frage auf, ab wann Jugendliche die Folgen derart weitreichender medizinscher Entscheidungen wie einer Hormonbehandlung adäquat absehen können und damit entscheidungsreif sind.

Die Beurteilung der Entscheidungsreife ist, nicht nur entwicklungspsychologisch und juristisch, äußerst komplex, da verschiedene Faktoren mit hineinspielen. Zu beachten ist, unter welchem kulturellen, medialem und sozialem Einfluss Kinder und Jugendliche stehen und ob eine Behandlungs-entscheidung in der Adoleszenz ggf. impulsiv erfolgt, auf eine schnelle Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet ist oder gut durchdacht und sorgfältig abgewogen und begleitet wurde. Es ist inzwischen bekannt, dass ein hoher Gebrauch von sozialen Medien mit entsprechenden Algorithmen das Erleben von Jugendlichen ggf. einengen und auch ein Katalysator für die Ausgestaltung von Bedürfnissen und Wünschen sein kann. Gleichzeitig ist die digitale Welt nun Realität. Im Einzelfall ist der Wunsch nach einer Transition vielleicht auch „nur“ ein ersehnter Ausweg neben anderen aus einem allgemeinen oder anderen psychischen Leid. All dies deutet die Komplexität des Zusammenwirkens vieler sichtbarer und unsichtbarer, bewusster und unbewusster Faktoren nur an. Es macht deutlich, vor welch hoch komplexen Fragestellungen Ärzt_innen und psychosoziale Fachleute stehen, wenn sie bereit sind und die Verantwortung annehmen, Kinder und Jugendliche in Fragen der geschlechtlichen Identität zu begleiten und über Möglichkeiten und Risiken medizinischer Maßnahmen aufzuklären und kritisch zu beraten.

Zur Haltung: Junge Menschen ernst nehmen

Da es keine einheitlichen Antworten für alle Kinder und Jugendlichen mit einer Geschlechtsdysphorie gibt, ist letztendlich die Haltung, mit der wir Kindern und Jugendlichen in der Begleitung auf ihrem Weg begegnen, der wichtigste Punkt. Kein Mensch sucht es sich aus, geschlechtsdysphorisch zu sein. Der Wunsch nach sozialer und körperlicher Transition stellt ein meist nachvollziehbares und oft auch wirksames Mittel da, um psychisches Leid zu beenden. Die Haltung sollte daher sein, dieses Leid und die Wünsche Jugendlicher ernst zu nehmen und diese nicht vorschnell als Phase abzutun und damit zu entwerten. Ein generelles Verbot von Maßnahmen mag wenige schützen, aber vielen schaden. Wer ernst nimmt, kann auch kritisch hinterfragen und die Notwendigkeit und den Nutzen medizinischer Maßnahmen gemeinsam prüfen. Der Ausbildung und Professionalisierung von medizinischen psychosozialen Fachkräften zur Beratung, Begleitung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit einer Geschlechtsdysphorie kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu.

Ausblick

Aber nicht nur die richtige Methode, wie vorhandenes Leid zu behandeln ist, sollte hinterfragt werden, sondern auch, wie das Leiden unter Geschlechtlichkeit entsteht. Weiterhin führen starre, normative Vorstellungen von Geschlecht - davon wie Menschen, Männer und Frauen auszusehen, sich zu verhalten und wie ihre Körper zu sein haben, bei vielen Kindern und Jugendlichen zu dem Gefühl, „anders“ oder „nicht normal“ zu sein. Es besteht daher die Hoffnung, dass in einer sich wandelnden Gesellschaft, in der Diversität und Vielfalt in allen Belangen langsam zur Normalität werden und Kategorien wie Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, Alter etc. an Bedeutung verlieren oder vielfältig gefeiert werden, es zukünftig weniger Menschen geben wird, die aufgrund ihres „So-Seins“ Leid erleben oder durch andere erfahren müssen. Für diesen Wandel und diese Werte wollen wir uns einsetzen. Auf dem Weg dahin bedeutet dies, mit Ungewissheit umzugehen und Fragen zu stellen.

Der Vorstand der DGfS im November 2024

Federführung: Sebastian Kosanetzky