Position zur aktuellen Debatte um sexuellen Kindesmissbrauch in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen

In den vergangenen Monaten ist es in Deutschland zu einer öffentlichen Diskussion um sexuellen Kindesmissbrauch in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen gekommen, in der sowohl insbesondere die Methodologie und Erkenntnisgewissheit empirischer Forschung als auch die Rolle von Wissenschaftler:innen in den Fokus gerückt wurde. Ein Großteil der Debatte fand nicht in wissenschaftlichen Journalen, sondern im Rahmen öffentlicher Massenmedien und offener Briefe statt. Zu der spezifischen Dynamik dieser öffentlichen Debatte möchten wir einzelne Gedanken beitragen.

Kontext

Der aktuellen Debatte ging voraus, dass organisierte und rituelle Gewalt (d.h. sexueller Kindesmissbrauch in organisierten Täter:innen-Netzwerken und mit einer ideologischen Prägung) in Anhörungen im Kontext der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) berichtet wurde. Im Jahr 2017 förderte die Kommission ein Forschungsprojekt mit dem Titel „Professionelle Begleitung von Menschen, die sexuelle Gewalt und Ausbeutung, im Besonderen organisierte rituelle Gewalt, erlebt haben: Die Perspektive der Betroffenen und der Fachkolleginnen und Fachkollegen“ am Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Hintergrund hierfür war nach unserer Kenntnis, dass bisher keine hinreichende sachliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema stattgefunden hat, da vorherige Versuche in den 1990er Jahren in den USA von einer skandalisierenden Dynamik um die Frage geprägt waren, ob es diese Form von Gewalt überhaupt geben kann oder ob die Erinnerungen daran auf Scheinerinnerungen basieren („satanic panic“, „memory wars“).

Im Jahr 2022 hat sich in der Schweiz eine medial geprägte Auseinandersetzung um das Thema organisierte und rituelle Gewalt entwickelt, die auf ähnlich skandalisierende Weise postulierte, dass diese Gewaltformen auf einer Verschwörungstheorie beruhen würden und dass Betroffenenberichte durch suggestiv arbeitende Therapeut:innen zustande kämen. Anfang 2023 griff der SPIEGEL diese Position unter dem Titel „Im Wahn der Therapeuten“ auf.

Im März dieses Jahres veröffentlichte die Fachgruppe Rechtspsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) eine Stellungnahme „zu Forschung und Beratung im Kontext ritueller sexueller Gewalt“. Die Stellungnahme war als offener Brief an die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gerichtet, deren Ministerium Geldgeber für die Arbeit der Aufarbeitungskommission ist, und zur Kenntnis an den Bundesminister der Justiz adressiert.

In der öffentlichen Stellungnahme kritisiert die Fachgruppe Rechtspsychologie die Methodik und Ergebnisinterpretation des oben genannten Forschungsprojekts in den Punkten, dass a) unzureichend berücksichtigt werde, dass rituelle Gewalt bisher durch Strafverfolgungsbehörden nicht dokumentiert worden sei, b) dass Betroffenenangaben zu berichteter Gewalt vor dem dritten Lebensjahr unplausibel und unkritisch berichtet worden seien, c) dass alternative Erklärungen zum Zustandekommen der berichteten Erinnerungen (z.B. suggestive Prozesse) vernachlässigt worden seien, und d) dass Phänomene wie Bewusstseinsspaltung und -manipulation empirisch nicht fundiert und als Fakten präsentiert worden seien.

Die Fachgruppe Rechtspsychologie problematisiert darüber hinaus, dass eine Darstellung von organisierter und ritueller Gewalt als Tatsache die schwerwiegende Konsequenz haben könne, dass vulnerable Patient:innen von Behandler:innen dazu veranlasst werden könnten, psychische Probleme auf diese Gewaltform zurückzuführen.

Die Stellungnahme wurde von einem Folgeartikel im SPIEGEL aufgegriffen. Auf die Stellungnahmen der Fachgruppe Rechtspsychologie der DGPs sowie der Sektion Rechtspsychologie im Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP) folgten Gegenstellungnahmen von diversen Fachgruppen und ‑verbänden: Die Gesellschaft für Psychotraumatologie, Traumatherapie und Gewaltforschung (GPTG) hält es für einen falschen Ansatz, Erinnerungen an rituelle Gewalt grundsätzlich in Frage zu stellen, nur weil es auch falsche Erinnerungen gebe. In der gemeinsamen Stellungnahme der Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend (BKSF), der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung, ‑vernachlässigung und sexualisierter Gewalt e.V. (DGfPI), dem Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) und der Bundesarbeitsgemeinschaft feministischer Organisationen gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen e.V. (BAG Forsa) wird benannt, dass Diskussionen über Einzelfälle nicht zu einem grundsätzlichen Infragestellen der Existenz von Gewaltformen führen dürften. Die Stellungnahme verweist auf dissoziative Störungen als Folge von schwerer sexualisierter Gewalt und positioniert sich an der Seite Betroffener – auch im organisierten und/oder rituellen Tatkontext. Die gemeinsame Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung, ‑vernachlässigung und sexualisierter Gewalt e.V. (DGfPI) und des Fachverbands Traumapädagogik e.V. benennt, dass eine polarisierte Debatte, pauschalisierte Diskreditierungen von Fachpersonen und öffentliche Angriffe für eine Aufklärung der aktuellen Fragestellungen nicht hilfreich seien. Auch die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK) problematisiert diese Gefahr.

Der Betroffenenrat bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) postuliert, dass zahlreiche Meldungen zu Gewalt in organisierten/rituellen Kontexten, u.a. beim Fonds Sexueller Missbrauch, nicht ignoriert werden könnten, dass das Narrativ, rituelle Gewalt sei ein Verschwörungsmythos, sowie die inhaltliche Skandalisierung und Mystifizierung eine sachliche Annäherung an die Problematik verhindere. Ein gemeinsames Positionspapier von u.a. der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) e.V., des wissenschaftlichen Fachverbands für Anwender:innen der psychotherapeutischen Methode EMDR (EMDRIA Deutschland e.V.), des Ethikvereins (e.V.) Ethik in der Psychotherapie, der Deutschen Gesellschaft für Trauma & Dissoziation (DGTD), des Bundesverbands der Vertragspsychotherapeuten e.V. (bvvp), des Bundesverbands Suchthilfe e.V., der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e.V. (DGSF), der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung e.V. (DPtV), der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie e.V. (DGVT), der Vereinigung für analytische und tiefenpsychologisch fundierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in Deutschland e.V. (VAKJP), der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie e.V. (DGPT) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) kritisiert die einseitige und spaltende Darstellung im SPIEGEL und macht auf ein sich wiederholendes Muster in der Gesellschaft aufmerksam, wenn es um das Anzweifeln von Gewalt geht. Die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) benennt, dass die Klärung, ob sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Strukturen existiere, eine kriminologische/juristische Aufgabe sei und keine psychotherapeutische. In einer therapeutischen Beziehung müsse fachliches Personal mit solchen Schilderungen ungeachtet ihres Wahrheitsgehalts umgehen. Die momentane Polemisierung und Diskreditierung von Patient:innen und fachlichem Personal verhindere eine weitere Wissensgenerierung und widerspreche dem Verständnis der DeGPT von Ethik und wissenschaftlichem Diskurs.

Auf die ausführlichen Inhalte der beschriebenen Stellungnahmen verweisen wir über die entsprechenden Links im Text.

Öffentlichkeit und Zeitgeist

Interessanterweise fand und findet diese wissenschaftliche Debatte nicht intrawissenschaftlich statt– etwa durch Debattenbeiträge in Fachjournals – sondern in Form öffentlicher Stellungnahmen und Positionspapiere bzw. offener Briefe. Welche Motive den Anstoß dafür gegeben haben, diesen Diskurs nicht in klassischen wissenschaftlichen Formaten, sondern in einem offenen Brief anzustoßen, darüber lässt sich natürlich nur spekulieren.

Vielleicht setzt sich hier auch der Zeitgeist der vergangenen Krisenjahre fort: Im Rahmen der Corona-Pandemie wurden Forscher:innen nicht nur zu wissenschaftlichen Akteur:innen, sondern haben sich gleichzeitig zu gesellschaftspolitischen Akteur:innen gemacht. Wissenschaftliche Debatten und Konflikte wurden gleichsam nicht mehr innerhalb der Fachwelt, sondern über Massenmedien ausgetragen. Ein solcher Ebenenwechsel ist allerdings nicht unproblematisch, unter anderem insofern, als die Systemlogiken von Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation gänzlich verschieden von denen öffentlicher Meinung und Massenmedien sind. Während in der Wissenschaft die kritische Reflexion von Erkenntnisgewissheit und die konstruktive Debatte um methodologische Herausforderungen konstitutiv sind, wirken diese Aspekte in mediatisierten öffentlichen Streits als unauflösbare Differenzen.

Ein zweiter Grund für die Verschiebung der aktuellen Debatte aus der Wissenschaft in die Öffentlichkeit mag in der Sexualitätsbezogenheit des Themas liegen. Anscheinend laden sexualbezogene Themen ganz besonders dazu ein, stark polarisiert und popularisiert in der breiten Öffentlichkeit diskutiert zu werden. Das sicher deutlichste aktuelle Beispiel hierfür ist die gegenwärtig hoch polarisierte gesellschaftliche Debatte über die Authentizität und den Umgang mit Geschlechtsdysphorie und Transidentität (insbesondere bei Jugendlichen). Interessanterweise geht es auch bei dieser Debatte um die Frage, was für sich beanspruchen kann, ausschlaggebend für eine Wahrheit zu sein: ein eigenes Empfinden oder ein externes Urteil.

Und es mag sein, dass in der Debatte auch die zwar einander überschneidenden, zugleich jedoch auch unterschiedlichen Rollen von empirischer Wissenschaft und klinischer Arbeit ein wechselseitiges Nichtverstehen begünstigen. Während empirische Wissenschaft mit der gebotenen Sorgfalt nach evidenzbasierten Antworten entlang von Wahrheitskriterien sucht, braucht wissenschaftlich fundierte Psychotherapie zusätzlich auch Raum für Zweifel, Paradoxien, Ambivalenzen, Verwirrendes und Unverstandenes – und dafür, dem Zustand des Nichtwissens nicht vorschnell durch Einordnung in klare Kategorien zu entkommen.

Wissenschaftliche Praxis und Fazit

Ein professioneller Diskurs in Form klassischer wissenschaftlicher Kommunikation durch Fachpublikationen und -kommentare ist in den vergangenen fünf Jahren, seit Erscheinen der ersten publizierten Arbeiten zum Thema, nach unserer Kenntnis nicht geschehen. Die direkte Öffentlichmachung vor der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wirft viele Fragen auf – beispielsweise, ob die aktuelle Debatte um organisierte und rituelle Gewalt eher als eine Bühne fungiert, etwa für den alten und sich wiederholenden „memory wars“-Konflikt zwischen Aussagepsychologie und Psychotraumatologie. Vielleicht lösen derart komplexe und noch nicht vollständig verstandene Phänomene und Themen auch das Bedürfnis aus, die Öffentlichkeit – hier gewissermaßen als Schiedsrichter – anzurufen.

Es wäre übliche wissenschaftliche Praxis, inhaltliche und methodische Kritik in erster Linie in denjenigen wissenschaftlichen Zeitschriften zu platzieren und zu diskutieren, in denen die Arbeiten publiziert wurden, und dort auch den Autor:innen die Möglichkeit zur Replik und zum wissenschaftlichen Diskurs zu geben. In den berufsethischen Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, deren Fachgruppe Rechtspsychologie die oben genannte Stellungnahme verfasste, finden sich konkrete Anweisungen, wie im Fall einer wissenschaftlichen Kritik vorzugehen ist: Psycholog:innen sind gegenüber dem eigenen Berufsstand loyal, verhalten sich standesgemäß und fördern den Berufsstand in Forschung, Lehre und Anwendung. Sie schulden ihren Berufskolleg:innen Respekt, bleiben bei kritischen Stellungnahmen zu ihrer Berufsausübung sachbezogen und führen den Diskurs hierüber in einer professionellen und wertschätzenden Art und Weise.

Vor diesem Hintergrund betrachten wir den Verlauf und die Intensität der aktuellen Diskussion um das Thema „Sexueller Kindesmissbrauch in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen“ mit Besorgnis. Nicht zuletzt deshalb, weil es ein sich wiederholendes gesellschaftliches Muster ist, dass die Existenz oder das Ausmaß der Folgen verschiedener Formen von sexueller Gewalt gegen Kinder verleugnet und bagatellisiert werden. Vor diesem Hintergrund könnten die UBSKM, die UKASK und die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten Forschungs- und Aufklärungsprojekte eine wichtige Arbeit leisten, um verschiedene Kontexte von sexuellem Kindesmissbrauch näher zu beleuchten. Studien, die zunächst das Ziel haben, Berichte von Personen auszuwerten, die anonym aussagen, organisierte und rituelle Gewalt erlebt zu haben, können nicht den Anspruch und das Ziel haben, die Existenz dieser Gewaltform zu belegen und sollten so auch nicht primär interpretiert werden.

Daher halten wir es für unangemessen, die Forschenden sowie die Psychotherapeut:innen, die in diesem Feld aktiv sind, pauschal in die Nähe von Verschwörungstheorien zu rücken, wie es gerade einige der entstandenen Medienberichte suggerieren. Hieraus resultiert eine unnötige Schärfe in der Debatte und zugleich eine sachliche Unschärfe. Beide sind der Sache nicht dienlich.

Das Aufgeben der interdisziplinären Perspektive auf organisierte und rituelle Gewalt sowie  der professionellen Herangehensweise an wissenschaftliche Diskurse ist ein Rückschritt in der wissenschaftlichen Aufarbeitung dieses Themas. Wir möchten für das Aufeinander-Zugehen, den wissenschaftlichen Dialog und eine respektvolle Streitkultur zwischen den beteiligten Fächern innerhalb der Psychologie, aber auch mit den wichtigen anderen angrenzenden involvierten Fächern, plädieren und uns dafür einsetzen.

Der Vorstand der DGfS

im August 2023

 

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